Mit welcher Haltung begegnen die Menschen in China heutzutage dem Marxismus? Hat die marxistische Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft noch irgendeine Auswirkung auf die Lebensrealität des chinesischen Volkes? Zunächst müssen wir uns vor Augen führen, dass es in China gegenwärtig viele unterschiedliche Formen von Marxismus gibt. Dieser Beitrag beschäftigt sich speziell mit dem „kritischen Marxismus“. Dieser Begriff bezieht sich auf einen vollkommen neuen Weg, den eine Handvoll westlicher Marxisten wie Georg Lukacs, Karl Korsch oder Antonio Gramsci zu Anfang des 20. Jahrhunderts aufgezeigt hatten. Im Unterschied zum sogenannten „orthodoxen Marxismus“ der Zweiten und Dritten Internationale will der „kritische Marxismus“ die konkrete innere Verbindung zwischen Idee und realem Leben neu etablieren. Seit Anfang der 1980er Jahre griffen chinesische Wissenschaftler geistige Ressourcen aus dem Westen und aus Osteuropa direkt auf, um den sogenannten „orthodoxen Marxismus“ zu kritisieren und wieder eine innere Verbindung zwischen der marxistischen Ideologie und der Realität herzustellen.
Um sich den Problemen der chinesischen Gesellschaft zu stellen, sucht der „kritische Marxismus“ dazu die enge Anbindung an die klassischen Schriften von Marx und Engels und legt besonderes Augenmerk auf die Greifbarkeit und Aktualität ihrer Ideen. Seine intellektuellen Ressourcen liegen in der westlichen Philosophiegeschichte, vor allem in der klassischen deutschen Philosophie, der zeitgenössischen Philosophie Kontinentaleuropas und ausländischen marxistischen Quellen aus dem Westen, Osteuropa und Japan.
Dieser „kritische Marxismus“ hat im heutigen China innerhalb des Marxismus die größte theoretische Dynamik. Ich lehre seit vielen Jahren an der Hochschule und beobachte in der Einstellung der heutigen Studenten zum Marxismus eine deutliche Ambivalenz: Zunächst bleiben sie zu Kursen und Texten rund um den Marxismus stets auf gebührender Distanz, halten sie diese doch lediglich für leere Theorien, die mit dem realen Leben nichts zu tun haben. Lernen sie jedoch den Weg des „kritischen Marxismus“ kennen, entdecken sie, dass Marx nicht nur ganz anders ist, als sie sich das vorgestellt hatten, sondern dass seine Theorien mit der heutigen Realität in China direkt verknüpft sind. Diese Form des Marxismus übt daher eine enorme Faszination aus, während der Marxismus als offizielle Ideologie für die Menschen seine Anziehungskraft verloren hat.
Rational und doch unvernünftig
Der „kritische Marxismus“ seziert die Lebenswirklichkeit der Chinesen von einer positiven und einer negativen Seite her. Im Positiven erklärt er, wie das Kapital in der chinesischen Gesellschaft allmählich zum maßgeblichen Prinzip aufsteigen konnte; im Negativen entlarvt er, warum die Chinesen in diesem vom Kapital regierten modernen Leben zugleich eine so große Sinnlosigkeit empfinden. Der positive Aspekt beruht auf Marx’ Diskussion über die Logik der Entstehung des Kapitals. Im Kontext des gegenwärtigen China hat sich der theoretische Schwerpunkt allerdings von der traditionellen Mehrwerttheorie auf die Aufdeckung der Verschwörung zwischen Kapital und Vernunft verlagert. Für die heutige chinesische Bevölkerung ist es nicht mehr wichtig, die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital herauszustellen. Nachdem in China Markwirtschaft und Kapital schon lange Einzug gehalten haben, wissen die Menschen ganz genau, dass Kapital Ausbeutung bedeutet und nur durch Ausbeutung eine Wertsteigerung des Kapitals erreicht werden kann. Wie können wir Wohlstand und nationale Stärke realisieren, das ist die Frage, die Chinesen momentan wirklich umtreibt. Da die vollständige Entfaltung des Kapitals den Westen zu Wohlstand und Stärke geführt hat, scheint China heute gar nichts anderes übrig zu bleiben, als sich dem Kapital zu öffnen.
Wie bewirkt die Herrschaft des Kapitals Wohlstand und Stärke eines Landes? Marx zeigt, dass sich das traditionelle Verhältnis zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur und dem Menschen und sich selbst radikal gewandelt hat, nachdem das Kapital in die Welt gekommen war. Einerseits kappt das Kapital all diese traditionellen und natürlichen Bindungen und entlässt den Menschen in die Freiheit eines einsamen Individuums. Andererseits legt es die Vernunft, die geistige Arbeit des Menschen, in Fesseln und arrangiert die gekappten Beziehungen neu. Im Medium der Maschine entfaltet sich eine rationale Beziehung zwischen Mensch und Natur und im Medium des Warenaustauschs eine rationale Beziehung im Zwischenmenschlichen. Aus beidem resultiert, dass der Mensch auch in der Beziehung zu sich selbst ein Vernunftmanagement betreibt. So ist das Kapital unter Beihilfe der Vernunft zum allein dominierenden Prinzip im Leben geworden und hat eine grenzenlose Expansion von Geldkapital zu Geldkapital (G-G) mit sich gebracht. Im realen Leben bedeutet das einerseits die Globalisierung des Kapitals, andererseits die permanente Anhäufung von Reichtum.
Der besondere theoretische Reiz des „kritischen Marxismus“ liegt nun darin, dass er auf die Unvernunft und Sinnlosigkeit eines vom Kapital bestimmten Lebens verweist. Gemäß der Kritik von Marx an Entfremdung, Verdinglichung und Warenfetischismus betont der „kritische Marxismus“, dass das am Kapital orientierte moderne Leben zwar vernünftig erscheine, de facto aber völlig irrational sei. Die kapitalistische Produktion insgesamt ist keineswegs vernünftig. Tatsächlich können Menschen Produktion und Leben nur in einem begrenzten Rahmen vernünftig planen. Dabei fordert das Wesen der kapitalistischen Produktion von uns, dass wir diese begrenzte Vernunft für das Ein und Alles im Leben halten. Kapitalistische Produktion ist unvernünftig, weil von ihr zwar der Ruf des Menschen nach der Freiheit ausgeht, sie jedoch tatsächlich dem Menschen ein noch größeres Joch aufbürdet. In einem Leben, in dem das Kapital Prinzip ist, sind alle Menschen versklavt, ganz gleich ob Bourgeois, ob geistig oder körperlich Arbeitender. Ein rein rational auf das Kapital abgestimmtes Leben ist im Grunde sinnlos. Es scheint mit uns überhaupt nichts zu tun zu haben, bleibt unerfüllt und inhaltsleer.
Kritische Theorie oder Aufstiegswissen für Eliten?
Denjenigen chinesischen Wissenschaftlern und Studenten, die der „kritische Marxismus“ anspricht, kann er zunächst einmal helfen, die Sinnlosigkeit des vom Geld regierten modernen Lebens zu sehen und zu begreifen. Vor dem Hintergrund der rasanten Marktorientierung und Urbanisierung, welche die chinesische Gesellschaft momentan erlebt, gibt es nicht nur eine von den modernen Großstädtern deutlich empfundene Sinnkrise, es gibt auch so erschütternde Fälle wie die „Selbstmordserie von Wanderarbeitern der zweiten Generation“ (Anm. d. Übers: Seit 2010 kam es in China wiederholt zu Selbstmorden unter chinesischen (Wander-) Arbeitern, die so u.a. gegen schlechte Arbeitsbedingungen und soziale Diskriminierung protestierten). All dies kann im theoretischen Rahmen des „kritischen Marxismus“ erklärt werden. Wer sich dem sinnlosen modernen Leben stellt und es mit kritischen Augen betrachtet, der kann in dieser Kritik auch für sich selbst einen Sinn des Lebens finden. Und nicht nur das: Die im „kritischen Marxismus“ entlarvte Verschwörung von Kapital und Vernunft führt diesen jungen Studenten auch deutlich vor Augen, wie sie unter der Herrschaft des Kapitals zur gesellschaftlichen Elite aufsteigen können. Sie können mittels ihrer großen intellektuellen Fähigkeiten (der Fähigkeit ihrer Kopfarbeit) an der Planung des Lebens durch das Kapital teilnehmen und so zu einer Elite heranwachsen, welche die gesamte Gesellschaft dominiert. So sehen wir, wie aufrechte Studenten unter dem Einfluss des „kritischen Marxismus“ in einen Zustand der Zerrissenheit geraten.
Der „kritische Marxismus“ wollte den inneren Zusammenhang zwischen marxistischer Idee und realem Leben in China wiederherstellen und einen Umbruch der Lebenswirklichkeit bewirken. Dieses Ziel wurde offensichtlich nicht erreicht. Seine Stärke besteht in der „individualisierten Erlösung“, während das Prinzip des Kapitals gänzlich unberührt bleibt. Der „kritische Marxismus“ besitzt in China zwar eine enorme theoretische Anziehungskraft, doch in der Praxis versagt er.
Kapital und Nationalstaat
Ein entscheidender Grund für das Dilemma des „kritischen Marxismus“ ist meiner Ansicht nach, dass dieser sich in China nie wirklich aus den historischen Grenzen der Marx’schen Idee lösen konnte. Unter dem Druck der realen Lebenserfahrungen im heutigen China können die Gedanken, die sich Marx selbst über den Weg zur Überwindung des Kapitals machte, nicht Fuß fassen. Bei Marx stellte sich dieser Weg im Wesentlichen in der „Abschaffung des Privateigentums“ dar. Das bedeutet de facto, dass das Proletariat auch den modernen Nationalstaat verwirft, also die Aufhebung der einzelnen Staaten zugunsten einer allgemeinen Weltgeschichte.
Für Marx verkörperte die bürgerliche Gesellschaft die Wahrheit des Staates. Das bedeutet, dass die vom modernen Staat bekundete Allgemeingültigkeit verlogen ist. Für Marx besaß allein das Proletariat wirkliche Allgemeingültigkeit, weil es für die echte Abkehr von der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Privateigentum als Prinzip stehe und die wirkliche Realisierung sozialer Beziehungen zwischen den Menschen bedeute. Im Kontext des zeitgenössischen China allerdings wurde die Allgemeingültigkeit des Proletariats bereits radikal demontiert. In der sozialistischen Vergangenheit Chinas haben die Menschen lediglich das Diktat einer Klasse über eine andere erfahren, nicht aber die allgemeine Bedeutung der Proletarierklasse. In der konkreten historischen Klassendiktatur war die Klasse gleichbedeutend mit der unverhohlenen Beraubung des Individuums durch die Klasse. Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch der Menschen nach einer universalen Revolution des Proletariats allmählich der Forderung nach universalen Menschenrechten gewichen.
Marx hat außerdem immer an seiner Position einer allgemeinen Weltgeschichte festgehalten. Er betonte einerseits, durch das Kapital sei der Prolog der Weltgeschichte eröffnet, und wies andererseits darauf hin, dass nur die Proletarier die Besonderheit des Nationalstaats wirklich überwinden und die Universalität der Weltgeschichte verwirklichen könnten. Bei diesen Überlegungen hatte er der Frage der Zivilisation anderer Nationen keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die moderne und neuere Geschichte Chinas aber zeigt, dass die Expansion und Herrschaft des Kapitals über den gesamten Globus den Nationalstaat mitnichten abzuschaffen vermochte. Ganz im Gegenteil, bei den Chinesen wurde sogar ein „nationalstaatliches Bewusstsein“ wachgerufen. Angesichts der inneren Krise des Kapitalismus und angesichts der Tatsache, dass der Weg einer allgemeinen proletarischen Revolution bereits stark überschattet ist, widmen sich die Chinesen heute äußerst selbstbewusst der Suche nach den Unterschieden zwischen der traditionellen chinesischen und der kapitalistischen Zivilisation und bemühen sich in der eigenen Kultur einen möglichen Weg zur Überwindung der kapitalistischen Zivilisation zu finden. Was aktuell in China zählt, ist also nicht der Standpunkt einer marxistischen Weltgeschichte, sondern vielmehr das Gefühl eines kulturellen Nationalismus.
Wenn der „kritische Marxismus“ in der aktuellen Situation keine Antworten auf die Frage der Beziehung zwischen Kapital und Nationalstaat findet, kann er in China unmöglich zu einer das Kapital eindämmenden realen Kraft werden, also einem echten Marxismus für die Praxis.
Dr. Zhang Shuangli ist Expertin für westliche Philosophie mit Schwerpunkt auf westlichem Marxismus an der School of Philosophy der Fudan-Universität Shanghai. Sie hat sich u.a. mit Karl Marx, Georg Lukacs und der Frankfurter Schule beschäftigt.
Text: Dr. Zhang Shuangli (张双利)
Übersetzung: Julia Buddeberg
April 2012